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Bernard DENIS, Frankreich
Ehemaliger Professor der Ecole nationale vétérinaire in Nantes,
Ehemaliges Mitglied der Wissenschaftlichen Kommission der FCI
Die Domestizierung des Hundes ist heute ein Thema, das fasziniert. Auf archäologischer
Seite sind immer mehr Erkenntnisse hinzugekommen und besonders das Aufkommen der
molekularen Genetik und die daraus abgeleiteten Daten werfen zahlreiche Fragen auf
und lösen spannende Diskussionen aus. Die kynologische Fachliteratur greift gerne
die kleinste Neuigkeit auf, was manchmal dazu führt, die traditionellen Auffassungen
als überholt anzusehen. Das stimmt natürlich teilweise, aber man sollte es damit
nicht übertreiben, indem man z. B. vergisst, dass es, in Ermangelung von Gewissheiten,
mitunter von Nutzen sein kann, den gesunden Menschenverstand heranzuziehen. Ferner
werden sich die Ideen mit Sicherheit noch mit der Veröffentlichung neuer Forschungsergebnisse
weiterentwickeln.
In diesem Beitrag werden klassische Ideen zur Domestizierung im Allgemeinen und
zu der des Hundes im Besonderen behandelt, aber natürlich wird auch auf die wichtigsten
Fragen eingegangen, die sich heute in Bezug auf die Hunde stellen. Es wurde besonders
darauf geachtet, einen Überblick zu vermitteln und viel mehr auf Erklärungen zu
setzen als auf bibliographische Verweise. Gemäß den Gewohnheiten wird zunächst auf
den Domestizierungsprozess selbst eingegangen, mithilfe der Fragen „wann, wo, warum,
wie?“, anschließend werden die Auswirkungen der Domestizierung auf die Tiere dargelegt
und schließlich werden die ersten Verwendungen der Hunde erläutert.
Als Hauptquelle diente ein sehr umfangreiches Dokument, das vor kurzem in Frankreich
erschienen ist und an dem zahlreiche Autoren beteiligt sind1. Genauere
Verweise,
die sich auf dieses oder andere Werke beziehen, sind in den Fußnoten zu finden.
Ferner ist auch ein vor kurzem erschienener Gesamtüberblick auf französischer Sprache
zu nennen, der die jüngsten Ergebnisse in der internationalen Forschung aufgreift,
insbesondere in der molekularen Genetik2.
Der Domestizierungsprozess
Trotz einiger weniger andauernder Diskussionen, herrscht doch nahezu Einstimmigkeit
darüber, dass der Hund vom Wolf abstammt. Ob beide nun als zwei verschiedene Arten
anzusehen sind (zum einen der Canis familiaris, zum anderen der Canis lupus, nach
der klassischen Auffassung) oder ob der Hund lediglich eine Unterart des Wolfes
ist, steht auch weiterhin zur Debatte. Bisher konnte in dieser Frage zu keinem Konsens
gefunden werden, aufgrund von andauernden Unklarheiten in der Definition von „Art“.
Am einfachsten ist es, die klassische Auffassung – zwei unterschiedliche Arten
– anzunehmen, zumal der Hund wahrscheinlich von mehreren Unterarten des Wolfes abstammt.
© Wikimedia commons
Polarwolf (Canis lupus arctos)
Zunächst also eine zügige Abwicklung der Fragen: wann, wo, warum und wie der Hund
domestiziert wurde? 3
Wann wurde der Hund domestiziert?
Die Domestizierung im Allgemeinen wird oft mit der Jungsteinzeit verbunden. In Wirklichkeit
erstreckt sich der Prozess jedoch auf einen weitaus größeren Zeitraum, da er, was
den Hund betrifft, bereits in der Altsteinzeit begonnen hat und auch noch heute
andauert mit den Domestizierungsversuchen neuer Arten.
Der Hund ist die erste domestizierte Art. Archäologische Funde belegen das Vorkommen
von Hunden je nach Region ab 18.000 bis 12.000 v. Chr. Der Einfachheit halber wird
oft die ungefähre Angabe von 15.000 v. Chr. gemacht. Der Hund ist die einzige domestizierte
Art der Jäger und Sammler und daher auch mit deren Lebensform verbunden. Die Domestizierung
des Hundes hat in keiner Weise die Domestizierung der zum Verzehr bestimmten Arten
– Schafe, Ziegen, Schweine, Rinder – herbeigeführt. Diese trat ab 8.500 v. Chr.,
also 6.000 Jahre später, in einer anderen Kultur auf, die der Ackerbauern und Viehzüchter.
Die Domestizierung des Hundes ist demnach von anderer Art, als die der landwirtschaftlichen
Nutztiere.4
Die Hypothese, wonach der Hund früher hätte domestiziert werden können, wurde bereits
aufgestellt, ohne jedoch soweit zurückzugehen, wie eine molekulargenetische Studie
von 1997, die glaubte auf 100.000 Jahre schlussfolgern zu können5! Dieser
Vorschlag
wurde sofort von den Forschern selbst geändert und nunmehr haben sich Archäologen
und Genetiker auf um 15.000 v. Chr. geeinigt6. Nichtsdestotrotz lassen
die weitaus
älteren Funde von Wolfsknochen in Verbindung mit menschlichen Überresten heute auf
eine lange Zeit des „prä-domestikativen“ Zusammenlebens schließen: einige Wölfe,
die den Gruppen von Jägern und Sammlern folgten und deren Gegenwart von ihnen auf
Distanz toleriert wurde, haben sich wahrscheinlich nach und nach von ihren Artgenossen,
die außerhalb des menschlichen Wirkungsfeldes geblieben sind, isoliert und sich
gewissermaßen „selbst gezähmt“, was einen ersten Schritt hin zur Domestizierung
darstellte7. Die Tatsache, dass der Hund den Menschen besser versteht,
und sei es
nur durch einfachen Blickkontakt, als der Schimpanse, könnte auf diesen sehr langen
Zeitraum des Kommensalismus zurückzuführen sein, der der eigentlichen Domestizierung
vorausging. 8
1
Le chien: domestication, raciation, utilisations dans l’histoire (Der Hund:
Domestizierung,
Rassenbildung und Verwendungen in der Geschichte), Auszüge aus den Bildungstagen
der Société d’Ethnozootechnie und der Société Centrale Canine am 17. November 2005
und am 28. Februar 2006 (234 Seiten). Es gibt zahlreiche Fach- und weitere kürzere
Artikel, darunter Des origines du chien (Über den Ursprung des Hunds), von
Yves
LINGNEREUX (siehe Anm. 8).
2 LICARI, S., „La domestication du chien“ (Domestizierung des Hunds)
in Cynophilie Française, 2009, n° 145, S. 32-35 & n°146, S. 22-27. Siehe
hierzu
ebenfalls: GALIBERT, F., QUIGNON, P., HITTE. und ANDRÉ, C., „Toward understanding
dog evolutionary and domestication history“ (Hin zu einem Verständnis für die Geschichte
von Entwicklung und Domestizierung des Hunds). Histoire de la domestication du chien“
(Geschichte der Domestizierung des Hunds), C.R.Biologies, 2011, 334, 190-196.
3 Dieser Ausdruck ist üblich, obwohl es angemessener wäre, von der Domestizierung
des Wolfes zu sprechen.
4 VIGNE, J.D., Les origines de la culture: les débuts de l’élevage
(Ursprünge
der Kultur: Anfang der Zucht), in Coll. „Le Collège de la Cité“, Le Pommier and
the Cité des Sciences et de l’Industrie Ed., Paris, 2004.
5 VILA, C et al., “Multiple and ancient origins of the domestic dog”
(Mehrfache und frühere Ursprünge des Haushundes), Science, 1997, 276,
1687-1689.
6 LEONARD, J.A. et al., „Ancient DNA evidence for old world origin of
new world dogs“ (Frühere DNA-Beweise: Kommen die Hunde aus der neuen Welt aus der
alten Welt?), Science, 2002, 298, 1613-1616. – SAVOLAINEN, P. et al.:
siehe Anm.
9.
7 Diese Theorie wurde insbesondere von COPPINGER verbreitet, 2001, Dogs:
a new understanding of canine origin, behaviour and evolution (Hunde: ein
neues
Verständnis für Ursprung, Verhalten und Entwicklung), Chicago University Press,
Chicago, 2001.
8 LIGNEREUX, Y., „Des origines du Chien“ (Ursprünge des Hundes), in Ethnozootechnie,
2006, n°78, 11-28.