Etwa zwanzig Kinder haben vergangenen Freitag an einer Leseveranstaltung mit Hunden
als Zuhörer, sogenannten „Listening Dogs“, in der Stadtbibliothek von Himmaste teilgenommen.
Die Kinder bekamen Besuch von der Afghanischen Windhündin Tentel und dem jungen
Neufundländer Leero zusammen mit ihren Besitzern und Handlern Jane und Meeli.
Für viele liegt es nahe, zu fragen: Wie kommen Hunde in eine Stadtbibliothek und
was machen sie dort? Das Projekt wurde von Jane Jaggo angestoßen, die selbst als
Kindergärtnerin arbeitet. „Habt ihr Angst, öffentlich vor eurer Klasse zu sprechen?“,
fragt Jane Jaggo die Kinder. Zwei Drittel von ihnen bejahten diese Frage. Woher
kommt diese Angst?
Lesen lernen fällt nicht jedem leicht. Ein langsamer Lernprozess oder Fehler beim
Lesen können dazu führen, dass man zu Hause oder in der Schule kritisiert oder sogar
schikaniert wird. Kinder sind schnell beleidigt und bereits eine böse Bemerkung
kann eine verheerende Wirkung haben – das Kind wird unsicher, verliert die Lernmotivation
und traut sich mit Sicherheit nicht, laut zu lesen. Einige Kinder sind bereits von
Natur aus verlegen und schüchtern.
Der Hund bringt niemandem das Lesen bei, sondern ist eine Unterstützung, er hilft
den Kindern, ihre Angst zu überwinden. Der Hund ist ein großartiger Gefährte für
Kinder, die lesen lernen – er lacht sie nicht aus, wenn sie etwas falsch machen,
er unterbricht sie nicht in ihrer Lektüre, noch verliert er die Geduld mit ihnen.
Er ist ein stiller Zuhörer und befindet sich einfach neben den Kindern, damit sie
fühlen, dass sie einen guten Freund haben, der sie unterstützt.
Weltweit bekannte Therapie
Kinder, die Hunden, oder „Listening Dogs“, vorlesen, ist eine bekannte Therapiemethode,
die seit fast 40 Jahren überall auf der Welt Anwendung findet. Vor einigen Jahren
hat Jane Jaggo – Besitzerin mehrerer Hunde – von einem Mann in Großbritannien erfahren,
der zusammen mit seinem Hund Danny um die Welt reist und Kinder zum Lesen ermutigt.
„Ich habe ihm einen Brief geschrieben und ihn gefragt, worum es bei diesem „Listening
Dogs“-Projekt eigentlich geht und wie man das Ganze ins Rollen bringt. Er hat mir
sehr viel Literatur zu dem Thema geschickt und da habe ich mich durchgearbeitet“,
sagt Jaggo.
Dann kam diese bekannte Therapiemethode einer Bibliothekarin der Stadtbibliothek
in Tartu zu Ohren und weckte ihr Interesse. Die Bibliothekare fragten herum, ob
jemand in Estland bereits an solchen Therapiesitzungen teilnähme. Das sprach sich
herum und drang glücklicherweise bis zu Jaggo vor. So trafen also „Angebot und Nachfrage“
aufeinander und das Projekt kam ins Rollen.
Jane Jaggo berichtet, dass in anderen Ländern auch Zwergponies und -schweine als
Therapietiere eingesetzt werden. In Estland sind leseunterstützende Therapiehunde
so selten, dass sie noch vor der ersten Lesesitzung in den Medien bekannt waren.
Die Stadtbibliothek Tartu und die „Listening Dogs“
Die Lesestunden finden zweimal im Monat in Tartu statt, mit je zwei Sitzungen à
30 Minuten. Ab April wird es vier Sitzungen pro Monat geben, da bei Kindern und
Eltern großes Interesse an einer Teilnahme besteht. Mehrere Kindergärten und Vorschullehrer
haben bereits ihr Interesse an einem Besuch der Hunde bekundet.
Laut Jaggo liegt die optimale Teilnehmerzahl pro leseunterstützendem Therapiehund
bei 1-3 Kindern, bei einigen Sitzungen waren es aber auch schon 5. Sobald sich der
Besitzer und der Hund in die Leseecke gesetzt haben, setzen sich die Kinder hinzu.
Entweder sitzen sie neben dem Hund oder legen sich sogar hin. Bei einer kleinen
Gruppe können die Kinder laut oder halblaut vorlesen. In einer größeren Gruppe lesen
sie im Flüsterton oder still. Wenn ein Kind noch nicht lesen kann, schaut es die
Bilder zusammen mit dem Hund an und beschreibt ihm, was es sieht.
„Während der Lesestunden mit den Hunden ist das korrekte Buchstabieren der Wörter
nicht von wesentlicher Bedeutung. Wichtig ist es, den Mut zum Vorlesen zu haben.
Die Therapiesitzungen der vergangenen zwei Monate in Tartu haben gezeigt, dass Kinder,
die zu Beginn der Sitzungen kaum lesen konnten, nun die ganze Geschichte innerhalb
der 30-minütigen Sitzung zu Ende lesen können.“
Lebhafter Leero und sanfte Tentel
In Himmaste mussten die Hunde ihre Aufmerksamkeit auf jeweils zehn Kinder verteilen.
Von den beiden Hunden war Leero der aktivere, er stupste die Hände an, die die Bücher
hielten, wie um die Kinder zu ermutigen nicht nur da zu sitzen, sondern auch zu
lesen. Tentel sah sich um und seufzte zufrieden, dass alles in bester Ordnung war.
Die vierbeinigen Zuhörer wurden von der Bibliothekarin Ene Lugamets nach Himmaste
eingeladen, die von diesem Projekt in der Zentralen Stadtbibliothek von Põlva und
in den Medien gehört hatte.
Die Handler der Hunde stellten auch kurz die beiden Rassen vor, denen Tentel und
Leero angehören. Hunde, die an Lesetherapiesitzungen dieser Art teilnehmen, müssen
sehr ruhig und geduldig sein, sowohl mit den Kindern als auch mit anderen Hunden.
Die Besitzerin von Tentel, die als Kindergärtnerin arbeitet, „testete“ ihren Hund
erst im Kindergarten und sah sofort, dass sich der Hund für diese Arbeit eignete.
Die Lesesitzungen mit den Hunden beruhen auf ehrenamtlicher Arbeit – es gibt kein
Geld für die Sitzungen. Wenn die Sitzungen außerhalb von Tartu stattfinden, erstatten
die Organisatoren die Reisekosten. In Zukunft werden die leseunterstützenden Hunde
einen besonderen Schal tragen, der sie als Therapiehunde kenntlich macht.
Margit Õkva
Dieser Artikel wurde ursprünglich in der Zeitung Koit der Stadt Põlva am
25. März 2014 veröffentlicht.
Lesestunden mit Hunden für Kinder in estnischen Stadtbibliotheken:
Des Menschen bester Freund erweist sich erneut als große Hilfe!
Ein Gespräch mit Jane Jaggo
Können Sie uns etwas über die Entstehung des Projekts erzählen? Haben Sie ähnliche
Initiativen in anderen Ländern inspiriert?
Ich habe bereits vor einiger Zeit von den „Listening Dogs“ gehört, aber erst vor
zwei Jahren habe ich den Facebook-Beitrag eines englischen Herren, Tony Nevetti,
gelesen, in dem er seine Arbeit und die seines Hundes in Großbritannien und den
USA vorstellt. Das hat wirklich mein Interesse geweckt und ich habe Tony geschrieben,
der auch noch so freundlich war, auf meine Fragen zu antworten. Ich habe mich durch
eine Reihe von Artikeln über „Listening Dogs“ durchgelesen und beschloss, dass Estland
so ein Projekt braucht.
Dann bekam ich eine Afghanische Windhündin und als sie größer wurde, wurde mir klar,
dass sie genau die Hündin war, mit der ich mir vorstellen könnte, in einem Lesetherapieprojekt
mit Hunden zu arbeiten. Mein herzlicher Dank geht an den Zwinger Al Khabara, der
mir meine liebe Tentel anvertraut hat und das Projekt somit möglich gemacht hat.
Im Januar dieses Jahres kontaktierte mich Frau Ewa Roots von der Stadtbibliothek
Tartu und fragte mich, ob ich daran interessiert wäre, gemeinsam mit ihnen das „Listening
Dogs“-Projekt zu organisieren. Ich sagte ohne zu zögern zu und der Rest ist ja bekannt.
Meine wahre Inspiration, um dieses Projekt durchzuführen ist Tony zusammen mit seinem
Greyhound Danny und es bedeutet mir wirklich viel, dass Tony unsere Arbeit verfolgt
und unterstützt. Wir hoffen, dass wir Tony nach Estland einladen können, um anderen
interessierten Personen an diesem Projekt mehr über das „Listening Dogs“-Projekt
in Großbritannien und den USA zu erzählen.
Estland hat 1,3 Millionen Einwohner und kann sich mit einer Alphabetisierungsrate
von 100 % unter dem Bevölkerungsteil der 15-jährigen und älter rühmen. Werden die
Esten durch diese von Hunden begleiteten Lesestunden dann die besten öffentlichen
Redner?
In Estland befindet sich das Projekt noch zu sehr in der Entwicklungsphase, um zukunftsweisende
Schlussfolgerungen ziehen zu können, aber wir sind sehr zuversichtlich, dass die
„Listening Dogs“ dazu beitragen werden, dass sich die Kinder beim öffentlichen Sprechen
wohler fühlen.
Die Schreibschrift verschwindet Stück für Stück und wird von Millionen von Nutzern
elektronischer Geräte als nutzlos angesehen. Was meinen Sie zu diesem Phänomen,
verglichen mit den hundebegleiteten Lesestunden?
Es geht nicht so sehr darum, von Hand schreiben zu können, sondern viel mehr um
die Fähigkeit zweckmäßig lesen zu können. Alle sind stets in Eile und niemand scheint
die Zeit zum Lesen zu haben – das gesamte „wirkliche Leben“ findet in der virtuellen
Welt statt oder zumindest außerhalb der eigenen vier Wände. Die Eltern selbst scheinen
nicht viel zu lesen, daher entwickeln die Kinder auch kein Interesse an Büchern.
Kinder können lesen, aber die Texte nicht zwangsläufig vollständig verstehen, da
sie keine Zeit haben, den wahren Sinn des Textes aufzunehmen.
Das erste Ziel des “Listening Dogs”-Projekts besteht darin, Kindern mit Leseschwäche
zu helfen, damit sie ihre Lesefähigkeit in einem sicheren und unterstützenden Umfeld
entwickeln können. Neben dem Ausbau der Lesefähigkeit, beabsichtigen wir damit auch,
die Kinder in die Stadtbibliotheken zu holen, wo sie eine größere Auswahl an Büchern
haben. Wir würden uns sehr freuen, wenn ein Kind oder auch ein Erwachsener, der
ansonsten nie in eine Bibliothek geht, zur Bibliothek kommt, und sei es auch nur,
um die Hunde zu sehen. Wir würden uns sehr freuen, wenn sie die Welt der Computer
und Fernseher gegen die der Bücher tauschen würden, wenn auch nur für kurze Zeit.
Wenn die Kinder den Hunden vorlesen, haben sie das Gefühl in einer Zeitlupe zu sein
und sind dadurch motivierter die Geschichte oder das jeweilige Buch zu Ende zu lesen.
Wie wird diese Initiative wahrgenommen? (bei Fachkräften in den Bibliotheken, Bibliotheksnutzern,
Lehrern, Eltern, deren Kinder an den Lesestunden teilnehmen, Presse,…)
Die Reaktionen sind durchweg positiv. Noch bevor die erste Lesestunde stattfand,
haben uns estnische Medien kontaktiert und so konnten wir den Zuschauern das Projekt
vorstellen. Das Projekt stieß fast jede Woche bei unterschiedlichen Kanälen auf
großes Interesse. In allen Orten, die wir besuchten, wurden wir herzlich empfangen.
Abgesehen von den Lesestunden in unserer „Stammbibliothek“ in Tartu, wurden wir
in zahlreiche Kindergärten und Schulen eingeladen. Wir sehen mit Freude, dass die
Lesestunden sowohl den Kindern als auch ihren Eltern gefallen.
Die “Listening Dogs” sind an ihrem hellgrünen Schal zu erkennen, auf dem “LIES MIT
MIR” steht. Auf der Straße lächeln uns die Menschen an und erzählen uns auch oft,
wie begeistert sie von dem Projekt sind.
Analysieren Sie die Erfahrungen in irgendeiner Weise? Nehmen Psychologen, Pädagogikexperten
oder andere Berufsgruppen an dem Projekt teil, oder haben sie sich dazu geäußert?
Wir beabsichtigen definitiv, die Ergebnisse der Therapiesitzungen zu analysieren
und auszuwerten. Derzeit gibt es keine wissenschaftlichen Arbeiten zu dem estnischen
„Listening Dogs“-Projekt, aber während meiner sechsjährigen Tätigkeit als Erzieherin
für Kinder mit Behinderung habe ich den Eltern der Kinder geholfen, geeignete Hunde
für die Familie zu finden oder die Interaktion zwischen dem Kind und dem Hund der
Familie zu fördern.
Unser Projekt hat die Aufmerksamkeit bekannter Therapeuten auf sich gezogen, die
den Wunsch geäußert haben, unsere Hunde in ihre tägliche Arbeit einzubinden. Wir
werden auch von mehreren Therapeuten unterstützt. Die hundebegleiteten Lesestunden
wurden einigen Kindern im Rahmen ihres Wiedereingliederungsprogramms vorgeschlagen.
Welches sind die wichtigsten positiven Auswirkungen auf die Kinder, die Hunden laut
vorlesen?
Aus welchem Grund auch immer sind viele Kinder nicht so gut im Vorlesen. Wenn das
dazu führt, dass sich ein Kind in der Umgebung anderer Kinder unwohl fühlt – besonders
wenn es aufgrund dessen schikaniert wird – zieht sich das Kind in sich zurück und
wird zum Einzelgänger.
Im Umfeld der Hunde fühlen sich die Kinder bestärkt und sorglos. Weder berichtigt
der Hund die Kinder, noch lacht oder kommentiert er eventuelle Fehler. Durch den
Hund fühlen sich die Kinder wohl und sind einfach so wie sie sind.
Wir veranstalten zwei unterschiedliche Arten von Lesestunden: Einzel- und Gruppenlesestunden.
Bei Gruppensitzungen befinden sich mehrere Hunde im Raum und die Kinder suchen sich
jeweils den Hund aus, dem sie vorlesen wollen. Die Kinder beachten die anderen Kinder
im selben Raum gar nicht, die sie eigentlich beim Lautlesen hören können. Die Kinder
konzentrieren sich nur darauf, dem Hund ihrer Wahl vorzulesen, und wenn sie dann
später verstehen, dass andere Kinder auch zuhören können, ermutigt sie das, auch
vor der Klasse laut vorzulesen.
Neben dem Ausbau der Lesefähigkeit spielt auch die emotionale Seite eine wichtige
Rolle – das Kind muss Zeit haben, um mit dem Hund zu kommunizieren, um ihn zu tätscheln
und zu streicheln.
Wie viel Personen sind in die Lesestunden verwickelt? (Ausbildung der Hunde, Freiwillige,…)
In Tartu haben wir ein kleines “Listening Dogs”-Team, dessen Arbeit ich koordiniere.
Unsere Hunde wurden nicht eigens für diese Aufgabe ausgebildet, aber alle haben
bereits Erfahrung in der Arbeit mit Kindern mit Behinderung. Alle arbeiten unentgeltlich
und ehrenamtlich an dem Projekt.
Ich habe meine Freunde gefragt, ob sie sich an dem Projekt beteiligen wollen – Leute,
die ich kenne und denen ich vertraue. Ich kann mich auf ihre Fähigkeit verlassen,
in ihren Hunden zu „lesen“ und sie auszubilden. Unsere Hunde haben auch an mehreren
Veranstaltungen in verschiedenen Kindergärten teilgenommen, sie sind ruhig und sozial
und wissen mit unterschiedlichen Situationen umzugehen.
Haben Sie Bemerkungen, Anregungen oder eine besondere Botschaft für die Leser von
dogdotcom?
Schätzen Sie die Menschen und Tiere um Sie herum, unterstützen Sie die Schwächeren,
versuchen Sie die Menschen, die anders sind als Sie, zu verstehen und natürlich
- lesen Sie! Lesen, lesen, lesen! In jedem Buch versteckt sich etwas Magisches,
etwas Neues, das es zu entdecken gilt, auch in denen, die sie bereits mehrmals gelesen
haben.
Vielen Dank, dass Sie uns diese Initiative vorgestellt haben!
Interview : Marie Luna Durán, FCI Marketing and Public Relations Manager